Wir lieben unsere Probleme
DIE PRESSE: Gastkommentar. Warum wir aus ungelösten Themen oft (zu) viel Energie beziehen - und wie wir damit umgehen können.
Wer sich mit der Theorie von NPO Management auseinandergesetzt hat, kennt das Prinzip: Eigentlich ist es das Ziel einer „Purpose based“ Organisation, sich selbst abzuschaffen. Warum? Ist das Thema gelöst, das man bearbeitet hat, braucht es die Organisation eigentlich nicht weiterhin. Kein Wildtier mehr gefährdet? Weg mit dem WWF. Die Natur 100 % geschützt. Wozu Greenpeace?
In der Praxis ist das gegen alle psychologischen, soziologischen und damit realwirtschaftlichen Prinzipien. (Fast) niemand schafft sich in der Folge jedoch ab, jede:r sucht sich stattdessen neue Spielwiesen. Und was individuell nachvollziehbar ist, führt im System zu Problemen.
Das ist auch für Teilbereiche und Themen in Unternehmen relevant. Wer antritt, um ein Problem zu lösen, zieht oft aus eben diesem Umstand seine Legitimation und Energie.
Was banal klingt, hat oft nachhaltige Folgen: Menschen werden positioniert, um Themen anzugehen. Diese sind dann aber hinterher oftmals nicht mehr in der Lage, den Modus zu wechseln. Damit drehen sich Organisationen ab einem gewissen Punkt im Kreis – es gibt viel Getöse und Konflikte bei gleichzeitig wenig Bewegung und Fortschritt.
Daher – neben einer allgemeinen Achtsamkeit für das Thema – stellt sich die Frage, was Entscheider:innen und Führungskräfte tun können, um die Ruder stets in die richtige Richtung zu setzen und so das „im Kreis Fahren“ zu vermeiden.
In der Physik gibt es das Prinzip des „metastabilen Systems“.
Wer ein Unternehmen führt, sollte diesen Mechanismus kennen: Bei (fast) jedem Thema gibt es Pole, zwischen denen sich das System bewegt. Beispiele gibt es viele: zentral vs. dezentral, sparen vs. investieren, direktiv vs. partizipativ u. v. m.. Bewegt sich das System zu sehr in Richtung eines Poles, verliert es an Effizienz und Effektivität. Je weiter es sich aus der Balance entfernt, desto schwieriger ist es, es wieder einem vernünftigen Zustand zu zuführen. Man stelle sich eine Kugel vor, welche man, sobald die Balance verloren gegangen ist, wieder einen Berg hinaufrollen muss. Je weiter sie sich vom Scheitelpunkt entfernt hat, desto anstrengender wird die zu lösende Aufgabe.
Was hilft daher?
Eine Methode ist, bewusst den Modus zu wechseln. Bei Raumschiff Enterprise hat es hierfür die „Alarmstufe rot“ gegeben. Damit wird allen sofort klar, was zu tun ist. Manchmal braucht es solche Mechanismen auch in Unternehmen und Organisationen. „Was ist jetzt unser Schwerpunkt und was tun wir daher – oder tun wir daher genau nichts?“. Die Konsequenzen können bis zur bewussten Abschaffung der betroffenen Einrichtung reichen. Ein zentrales Projektmanagement-Office war wichtig, um Projektmanagement in der Organisation zu verankern? Wenn das gelungen ist, kann es sich in der Folge wieder auflösen.
Dazu hilft es, bei Menschen bewusst auf diese Verhaltensmuster zu achten und sie zur Reflexion zu bringen. Wer nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel - ein bekanntes Sprichwort, das zu selten denjenigen gesagt wird, die mit dem unreflektierten Einsatz ihrer Stärken mehr kaputt machen als bewirken. Oder schlimmer: ihre Energie aus Konflikten ziehen, die sie in ihrem Umfeld anfachen.
Daher gilt: Stärken nutzen und gleichzeitig reflektieren, an welchem Punkt das System steht und was es dort braucht. Dann lieben wir irgendwann die Lösungen mehr als die Probleme. Und so soll es sein.
Gastkommentar von Matthias Prammer in DIE PRESSE, Samstag, 08.10.2022